Essenz
Das Große Mysterium
Was die letztendliche absolute Wahrheit ist, wird oft als „Großes Mysterium“ bezeichnet. Und man gibt ihm verschiedene Namen. Wir kennen es als Leerheit, als reines Bewusstsein, höchste Intelligenz, uranfängliche Weisheit, Gottheit, Brahman, als Wahres Selbst (das aber ein selbstloses Selbst ist) oder als göttliche Matrix. Es ist nicht greifbar und beschreibbar, deshalb versucht man es zu umschreiben.
Die Zitate im folgenden Text sind aus dem Buch: "ZEN - Der große Weg ist ohne Tor" von Ama Samy (= Arul M. Arokiasamy, geb. 1936), indischer Jesuiten-Pater und Zen-Meister
Der Franziskaner-Pater Richard Rohr beschreibt in der christlichen Tradition die drei Arten der Erkenntnis als „die drei Augen“:
„Die erste Art der Erkenntnis nennt er das ‚Auge des Fleisches‘. Sich seines Körpers und Atems bewusst zu sein findet überwiegend auf dieser Ebene statt. Als Beispiel führt Rohr die Betrachtung eines Sonnenuntergangs an. Sieh die Schönheit, genieße das alles, sei es und fühle es. Für das ‚erste Auge‘ ist das alles, was es gibt: fühlen, genießen und erleben."
"Dann gibt es das zweite Auge, das ‚Auge der Vernunft‘. Es bedeutet, kausale Verbindungen, das heißt Ursachen und Wirkungen zu entdecken. Was ist die Ursache des Sonnenuntergangs, wie kommt er überhaupt zustande? Zu verstehen, dass die Erde sich dreht und auf diese Weise Morgen und Abend entstehen, das ist die Aufgabe des ‚Auges der Vernunft‘ und der Einsicht in voneinander abhängige und zusammenhängende Faktoren. Vernunft allein ist jedoch kein Erwachen."
"Die dritte Art der Wahrnehmung nennt Rohr das ‚Auge des wahren Verstehens‘. In buddhistischen und in Zen-Begriffen würden wir es als prajna-Weisheit bezeichnen, als nicht-duales Wissen, höchste Weisheit. Das ‚Auge des wahren Verstehens‘ ist das ‚Auge der Weisheit‘, Richard Rohr bezeichnet es als Mysterium. Mit diesem Auge erkennst du, dass die Wirklichkeit ein tiefes Mysterium ist, das sich nicht in Vernunft oder kausaler Bedingtheit erschöpft und weder körperlich noch emotional zu fassen ist. Das ‚Auge der Weisheit‘, durch das sich der Geist öffnet, ist viel tiefer, es ist Nicht-Wissen, Rätsel, Mysterium!“
Wie die indischen Mystiker unterscheidet auch Meister Eckhart zwischen Gott und Gottheit, um sich diesem Mysterium zu nähern. Er sagt, „solange er ‚in dem Strom und in der Quelle der Gottheit stand‘, befragte ihn niemand. Denn während Gott wirkt, wirkt die Gottheit nicht. Die Gottheit wird im Fließen der Schöpfung zu ‚Gott‘.“
In der indischen Mystik heißt es entsprechend: Brahman (als Gottheit, absolute Wirklichkeit) wird in der Erscheinung oder Schöpfung zu Ishvara, dem Herrn. Und für ihn gibt es tausend Namen. Im gleichen Zuge wird Atman-Brahman zum individuellen Atman (Selbst), der sich dann durch Identifikation in Samsara verstrickt (Jivatman, Ego). Cit, das reine Bewusstsein wird zu Citta, dem individuellen, verkörperten Bewusstsein. Wenn wir das verstehen, wird uns klar, warum das Wahre Selbst als ‚reines Bewusstsein‘ Cit die Verwirklichung des Nicht-Selbst ist. Die Absolutheit ist vollkommene Losgelöstheit – totale Präsenz, die wir in der Meditation erfahren können. Wir können diese Präsenz nicht erkennen, da wir das sind. Es ist kein Objekt, das wir anschauen können. Wir können es nur als totales Präsent-Sein bzw. klare Bewusstheit erfahren, wie es auch in den tiefgründigsten buddhistischen Überlieferungen heißt. Und dieses Erfahren ist reines Sein. Es gibt kein Subjekt, das ein Objekt erkennt. Es ist nicht-dualistisch, jenseits von Raum und Zeit. Das ist es, was wir Leerheit nennen. ES IST...
Arokiasamy sagt dazu:
Im Verlauf der spirituellen Reise zum Mysterium „findet ein Erwachen statt, wenn man zur Leerheit erwacht und das Selbst ‚vergessen‘ ist. Leerheit ist das Selbst, das Selbst ist Leerheit. Jede substanzielle Wesenheit, auch Gott, Buddha und Selbst verschwinden in diesem unbegreiflichen Geheimnis. (…) Das Herz von Zen ist Erwachen zur Leere; Leere die ein Geheimnis ist, ein Geheimnis, das Gnade ist. Dieses Erwachen erblüht in der Blume des Mitgefühls, trägt die Früchte von Freiheit und Frieden mitten hinein in Dunkelheit, Leiden und Tod.“ (…)
„Als der chinesische Kaiser Wu von Liang Bodhidharma fragte: ‚Was ist der tiefe Sinn der Heiligen Wahrheit?‘, antwortete Bodhidharma: ‚Unendlich weit und leer, nichts von heilig.‘ Auf die Frage: ‚Und wer bist du – mir gegenüber?‘, antwortete er: ‚Ich weiß es nicht.‘ (…) Das ist es, was Bodhidharma präsentiert: das Mysterium der Leere von Selbst und Welt. Letztlich mündet jegliches Erkennen von Wirklichkeit in ‚Leere‘ und ‚Ich weiß es nicht‘.“
Und genau deshalb ist die höchste Wirklichkeit unsere Zuflucht, die wir mit Hingabe verehren sollen, in welcher Form auch immer sie sich für uns manifestiert, um sich wie eine Spiegelung des Großen Mysteriums unserem individuellen Bewusstsein zugänglich zu machen.